Materialgestütztes Schreiben, Lasse Liebich, Q2, (4/22)
Im Deutschunterricht in der Schule lernen wir alle, dass die Epoche der Romantik vom Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts anzusiedeln ist. Wir lernen, dass es typisch für den Romantiker war, vor der Wirklichkeit und gesellschaftlichen Normen zu flüchten und den Fokus auf die Sehnsucht, eigene Gefühle und Individualität zu legen. Wie also kann es sein, dass in einer Welt, die durch Globalisierung und Digitalisierung immer pluraler und individueller wird und somit doch eigentlich eine Abkehr von der Norm impliziert, die Romantik laut vieler Kritiker komplett verschwunden zu sein scheint?
Keine Frage: heute – über 200 Jahre nach der Epoche der Romantik und mit dem Wissen über zwei Weltkriege und zahlreiche Terroranschläge im Hinterkopf – können wir mit Gewissheit sagen, dass von der Vorstellung einer romantisierten Welt, wie beispielsweise Novalis sie bezeichnet – auf den ersten Blick nicht viel übriggeblieben ist.
Wenn wir heute den Begriff „romantisch“ verwenden, hat dieser auch laut Eberhard Rathgeb kaum noch die damalige Bedeutung. Wir benutzen ihn, um uns selbst eine Lebensqualitätssteigerung vorzugaukeln, nicht etwa als Beleidigung für jemanden, der die Realität ignoriert. Im Endeffekt ist der Begriff heute demnach nicht mehr als eine leere Worthülle, die uns hilft, die verlogene Illusion einer „romantischen“ Welt aufrecht zu erhalten.
Friedrich Schlegel bezeichnete die Romantik 1800 als ein Aussetzen der vernünftig denkenden Vernunft, um uns in eine schöne chaotische Verwirrung zurückzuversetzen. Das dieses geschichtliche Verständnis heute nicht mehr als Ziel gelten sollte, versteht sich besonders in Zeiten von Corona-Leugnern wohl von selbst. Die Vernunft komplett auszuschalten, um Verwirrung hervorzurufen, ist also keine gute Option. Ist es also doch sinnvoll und gut, dass die Zeit der Romantik scheinbar seit mehr als 2 Jahrhunderten vorbei ist?
Dagegen spricht jedenfalls, dass sich in romantischen Werken durchaus Aspekte finden lassen, die noch heute Gültigkeit besitzen, bei genauerem Hinsehen zum Nachdenken anregen und sehr wohl aktuell und erstrebenswert erscheinen.
Ja, die Epoche der Romantik ist vorbei. Doch geistig ist sie noch immer in unseren Köpfen verankert. Die Fantasie ist das wertvollste Gut, das wir Menschen besitzen. Sie ist persönlich und individuell und ermöglicht es uns, zu Träumen und in Vorstellungen zu versinken.
Auch das Motiv der Wanderlust und der Naturverbundenheit ist heute präsenter denn je. Ob Familienurlaub am Strand, das obligatorische Auslandsjahr nach dem Abitur oder gleich eine ganze Weltreise. Die Sehnsucht nach dem Erkunden ferner Ländern und dem Erkunden fremder Kulturen, um den eigenen Horizont zu erweitern, liegt schwer im Trend – und zeigt, wie groß das Verlangen ist, aus unserer geradlinigen, monotonen Alltagswelt zu entfliehen, um der Leere und Langeweile zu entgehen.
Das Überhandnehmen von Materialismus, Technik, Kommerz und Konsum führt laut Walter Krejci zum Verdrängen von Fantasie und individueller Emotionen.
Die Wissenschaften mit dem Anspruch, alles Unvorhersehbare vorhersehbar zu machen, tun den Rest. Auch die Kunst, zu der die Literatur der Romantik gehört, rückt immer mehr in den Hintergrund. Doch nur wenn wir „Verstand und Gefühl, Intuitives und rationales harmonisch verbinde(n)“, können wir einer solchen Welt entgegenwirken und ein Verdrängen unserer Gefühlswelt verhindern.
Dass der Wunsch nach Individualität, Sinn, Einheit und Orientierung – kurz, die Sehnsucht nach Romantik – Thema aktueller Entwicklung ist, wird auch an Techniken wie Augmented Reality deutlich. Das Phänomen, die Realität über die eigene Welt hinaus zu erweitern bzw. eine alternative Welt mit der realen zu verschränken, lässt sich durchaus als progressive Bewältigungsstrategie unserer heutigen rationalen Welt betrachten. Auch wenn die Technik selbst nicht romantisch ist, wird der Nutzer zum sinnstiftenden Schöpfer seiner eigenen Wirklichkeit.
Dass eine Flucht in die Fantasie hilfreich sein kann, wird in romantischen Werken wie E.T.A. Hoffmanns „Der Goldne Topf“ von 1814 deutlich. Anselmus ist in der Dresdner Bürgerwelt verloren und tollpatschig, findet jedoch in der mystischen Fantasiewelt Halt und Glück. Auch die Kritik am Philistertum, die in der Novelle immer wieder deutlich wird, kann heute – über 200 Jahre später – als Kritik an der modernen Welt valide übertragen werden.
Unsere heutige Welt wird immer komplexer, schneller, rationaler und digitaler.
Ist es nicht gerade in Zeiten wie diesen, in denen wir manchmal das Gefühl haben, die Tagesschau kaum bis zum Ende gucken zu können, ohne einen mentalen Zusammenbruch zu erleiden, besonders wichtig, sich ein Stück in die romantisierte Welt zurückzuziehen zu können und einfach mal die Kraft der Vorstellung an etwas Magisches, realitätsfernes zu nutzen?
Natürlich dürfen wir nicht die Augen vor der Realität verschließen und uns eine Traumwelt zurechtzimmern, in der wir auf Dauer die Probleme unseres echten Lebens vernachlässigen. Aber ab und zu mal die anstrengende Monotonie des ernsten Alltags vergessen hat durchaus seinen Reiz – so wie eine sexy Affäre eben.