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Schubladendenken – ein falsch eingeschätztes Phänomen?

Es gibt eine Sache, die mich seit einiger Zeit immer wieder beschäftigt. Ein Gedanke und eine Frage, die irgendwo in einer unauffälligen Ecke meines Gehirns sitzen und warten; warten, bis jemand eine Antwort auf sie hat. Ab und zu melden sie sich, zu unterschiedlichsten Zeitpunkten, in verschiedensten Situationen – die aber alle eines gemeinsam haben: das Schubladendenken.

Ein*e jede*r hat diesen Begriff schon einmal gehört (spätestens im Gottesdienst zum Schuljahresanfang letzten Sommer, in dem der Pastor über genau dieses Thema gesprochen hat). Und wie vielen Menschen bin ich schon begegnet, die sich ihr Kopfinneres tatsächlich als riesige Anlage lauter kleiner und größerer Schubladen vorstellen, in denen sie all ihre erworbenen Kenntnisse verstauen? Vielleicht müsste man die eine oder andere auch mal wieder ausmisten…

Aber was hat es mit diesem Phänomen, das offensichtlich ein so zentraler Punkt für das laienhafte Verständnis des menschlichen Gehirns ist, auf sich?

Nun, ganz neutral betrachtet ist der mit dem Schubladendenken verbundene Vorgang zunächst einmal nichts anderes als eine Art Kategorisierung der Welt. Wir Menschen haben die Eigenschaft, alles, was uns begegnet, zu analysieren und in unser Weltbild einzuordnen – das geschieht ganz unbewusst und mit jeder neuen Sache, die uns begegnet. Um dies an einem recht banalen Beispiel zu verdeutlichen: Setzt man einem Kleinkind einen Teller mit Spinat vor, ist die erwartete Reaktion erst einmal Ablehnung und Ekel. Der grüne Schlamm sieht irgendwie komisch aus und riechen tut er auch seltsam – er kommt also (in der noch nicht so umfangreichen Sammlung von Kategorien im Kopf des Kindes, schließlich hat es noch nicht so viele Erfahrungen gemacht wie ein erwachsener Mensch) in die Schublade „Kenn ich nicht: Mag ich nicht!“ Der Spinat könnte gar als „gefährlich“ eingestuft werden, da es unbekannte Materie ist. Bestückt man den Teller hingegen mit einem Kartoffelpuffer, der einen Mund aus Paprika und Augen aus Erbsen hat, ist die Akzeptanz des Kindes für das Essen vermutlich weitaus größer – immerhin lächelt es fröhlich, eine Geste, die das Kind bereits mit Wohlgesonnenheit verbindet. Der Kartoffelpuffer samt Gemüse rutscht eher in die Kategorie „Sieht freundlich aus: Mag ich!“

Es gibt sicherlich passendere Beispiele, um das grundlegende Prinzip des Schubladendenkens zu erklären, doch für unsere Zwecke hat dieses, hoffe ich, ausgereicht. Denn das eigentlich Interessante an dem Thema ist nicht, was das Schubladendenken überhaupt ist, sondern die Tatsache, dass es im Sprachgebrauch der Gesellschaft häufig mit sehr negativen Konnotationen auftaucht. Begriffe wie „Vorurteile“, „Diskriminierung“ und „Rassismus“ sind oftmals nicht weit entfernt, wenn jemand das Wort „Schubladendenken“ in den Mund nimmt. Ich vermute, dass alle Leser*innen dieses Artikels darin übereinstimmen, dass diese Verknüpfungen nicht weit hergeholt sind – und ich schließe mich dem ganz an. Auch hier starte ich nochmal mit einem kleinformatigeren Beispiel: Vor ungefähr zwei Jahren kam ich mit einem Menschen zusammen, der der festen Überzeugung war, alte Musik sei grundsätzlich langsam. Scheinbar ist dies ein Vorurteil, das dem Begriff der nicht-modernen Musik anlastet. Wer sich ein wenig auf diesem Gebiet auskennt, kann jedoch sehr schnell beweisen, dass dieses Vorurteil ganz offensichtlich falsch ist (man denke nur an Chopins Fantaisie Impromptu oder Rimsky-Korsakows Hummelflug). Der „alten“ Musik wird hier also ungerechtfertigterweise die Schnelligkeit abgesprochen. Und es wird deutlich: Unsere Bilder der Welt hängen maßgeblich davon ab, was für Erfahrungen wir gemacht haben. Wir meinen, von der Körpergröße einer Person auf ihr Alter, von Frisur und Kleidungsstil auf ihr Geschlecht und von der Hautfarbe auf ihre Herkunft schließen zu können, da wir bereits so vielen Menschen begegnet sind, durch die sich bestimmte Verknüpfungen in unserem Gehirn festgesetzt haben: Kleine Leute sind eher jung, Kleider werden von Mädchen getragen und Menschen mit dunklerer Hautfarbe kommen nicht aus Deutschland. Schon beim Schreiben merke ich, wie sehr es mir widerstrebt, solche Dinge als Selbstverständlichkeiten zu bezeichnen. Tatsächlich glaube ich auch daran, dass es in vielen Lebensbereichen über die letzten Jahre hinweg schon massive Besserungen bezüglich dieser Denkweise, dieser auf Durchschnittswerten beruhenden Einordung von Menschen gegeben hat. Aber die grundlegende Frage bleibt:

Warum denken wir, in kleinen wie in bedeutungsschwereren Angelegenheiten, in solchen Kategorien? Wieso lassen wir es nicht einfach sein und erfreuen uns an einem vorurteilsfreien Leben?

Die Antwort ist einfach und logisch: Das Schubladendenken bietet auch Vorteile. Es hat einen Nutzen im Leben. Kommen wir noch einmal auf die Definition des Begriffes zurück: Es handelt sich um eine Kategorisierung all dessen, was uns begegnet. Und das ist doch durchaus nützlich, oder? Besonders die Unterscheidung in gefährlich und ungefährlich ist hierbei zentral – und überlebenswichtig. Man stelle sich nur einmal vor, was passieren würde, wenn wir Hauskatze und Löwe nicht unterscheiden würden und probierten, Letzteren zu streicheln, wenn wir ihm in freier Wildbahn begegneten. Oder aber, wie viel mehr Übergriffe auf Frauen in dunklen Straßen stattfinden würden, wenn sie nicht auf Äußerlichkeiten achten und keine Vorsicht vor bestimmten Personentypen walten lassen würden.

Doch bereits hier wird deutlich, dass es Ausnahmen gibt. Ausnahmen, die entgegen unseren alltäglichen Einordnungen stehen; die nicht in unsere Schubladen passen. Denn nicht jede Hauskatze ist per se ungefährlich und nicht jede dunkle Gestalt auf der Straße ist bedrohlich, selbst wenn es sich um einen betrunkenen Mid-50-jährigen handelt, der allein unterwegs ist und grölend fremde Leute grüßt.

Bei Menschen sind diese Ausnahmen hinsichtlich unserer Schubladen weit ausgeprägter als bei Dingen wie Musik oder Tieren, denn aufgrund unserer sozialen Veranlagung haben wir mit Menschen den meisten und intensivsten Kontakt, durch den entsprechend viele Eigenschaften entstehen, die wir Personen zuschreiben können – wir haben, wenn man so will, eine größere Kommode für Menschen als für alles andere. Deshalb kommt es auch leicht vor, dass wir falsche Annahmen über Leute treffen, die wir noch nicht so gut kennen. Beobachten wir einen Menschen, so formiert sich in unserem Kopf sogleich ein Bild von diesem, und das zunächst nur auf Grundlage der Äußerlichkeiten: Wir entscheiden, ob wir die Person sympathisch finden oder nicht, machen uns Gedanken darüber, wohin sie gerade unterwegs ist, stellen uns vor, wie ihr Zimmer aussieht, ob sie in ihrem Bekanntenkreis beliebt oder eher unbeliebt ist, ob sie viel Sport macht, ob sie eine gute Beziehung zu ihren Eltern hat etc. Die Ergebnisse unserer Analyse beruhen auf Erfahrungswerten und können unter Umständen erschreckend genau sein. Und auch, wenn viele der eben genannten Aspekte nicht unbedingt relevant sind, gibt es doch einige Sachen, die wir erkennen müssen, um uns als soziales und sicheres Lebewesen in dieser Welt zu etablieren: Braucht die Person vielleicht Hilfe? Kann ich sie nach dem Weg fragen, ohne Gefahr zu laufen, angegriffen zu werden? Mit welchem Tonfall sollte ich sie ansprechen, um das erwartetet Maß an Respekt auszudrücken?

Andere Annahmen, die wir aus dem äußeren Erscheinungsbild ziehen, können jedoch auch in die falsche Richtung zielen und extrem verletzend oder zumindest ungerechtfertigt sein. Zum Beispiel, dass eine Person mit dunkler Hautfarbe kein Deutsch spricht oder als Flüchtling nach Deutschland gekommen ist. Dass ein Mann, der einen Rock trägt, schwul ist. Dass jemand, über den wir nur wissen, dass sie in einem Supermarkt arbeitet und verheiratet ist, einen niedrigen Bildungsgrad hat.

Genau wie die Rückschlüsse auf Beliebtheitsgrad und Zimmereinrichtung eines Menschen sind dies Vorurteile, die hier jedoch als Rassismus oder Diskriminierung gewertet werden müssen. Und an genau dieser Stelle ist das sonst so hilfreiche Schubladendenken problematisch.

Ohne die ständige Kategorisierung unserer Umgebung hätten wir es schwer zu überleben – unser Gehirn wäre schlichtweg überfordert mit der Fülle an Informationen, die tagtäglich auf es einströmen, wenn es keine Möglichkeit hätte, diese Informationen zu sortieren. Wir würden haltlosem Chaos verfallen und den Überblick verlieren. Wir könnten Gefahren nicht richtig einschätzen und Chancen nicht erkennen. Sobald es jedoch an die Kategorisierung von Menschen geht, müssen wir unglaublich vorsichtig mit unseren Vermutungen und Vorurteilen sein. Das heißt nicht, dass wir das Schubladendenken in Bezug auf Menschen abstellen sollten – es ist auch auf diesem Gebiet immer noch ein wichtiges Mittel, um sich irgendwie zurechtzufinden. Wir sollten uns jedoch darum bemühen, die Kategorien nicht so eng und endgültig zu fassen; um im Bild zu bleiben: die Schubladen offenlassen, anstatt sie frühzeitig abzuschließen und keine Umsortierung mehr zuzulassen.

Wir sollten uns immer wieder darüber bewusst werden, welche Schubladen es eigentlich in unseren Köpfen gibt und was für Sachen sich darin befinden. Und wir sollten bereit für eine Neuzuordnung von Informationen sein.

Um Rassismus und Diskriminierung vorzubeugen und zu bekämpfen, müssen wir uns in Situationen begeben, die unseren Vorurteilen entgegenstehen, denn nur so können wir erfahren, dass alle Menschen unterschiedlich sind, ganz egal, wie sie aussehen, wo sie herkommen oder welche Sprache sie sprechen, wie gut sie in der Schule sind, welchen Beruf sie ausüben usw.

Nur so können wir lernen, dass die einzige Kategorie, der wir eine fremde Person mit absoluter Sicherheit zuordnen dürfen, die Schublade „Mensch“ ist.

Alea Unger (12/21)

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