Kurzgeschichte, Lina Luise Seyler, Q1 ( 2/22)
TW: Suizid
(1) Es war Nacht, wahrscheinlich eine der dunkelsten, die man je gesehen hat. Und ausgerechnet in dieser Nacht hatte Clara ihr Zuhause verloren. Nach einem Streit, wohl dem heftigsten seit langem, war der Entschluss der Mutter endlich gefallen: das Zusammenleben täte beiden Parteien nicht gut- einer müsse gehen, und das sei ganz sicher nicht sie selbst. Ihr blieb nun das Haus, Clara blieb gar nichts- nicht einmal eine Taschenlampe hatte sie mitnehmen können, bevor die schwere Haustür krachend ins Schloss gefallen war, um sich für sie niemals wieder zu öffnen. Die beißende Kälte zog Clara heftig durch die Gliedmaßen, während sie sich vorsichtig über die schmalen Pfade des um das Haus liegenden Waldes tastete. Es war nicht so, dass sie noch irgendeine Idee hatte, wo sie sich befand. Die Straßenlaternen im Dorf gingen um Mitternacht aus, also blieb ihr nicht einmal das als Orientierungspunkt. Wieso musste sie auch mit dieser Hexe von Mutter mitten im Wald leben? Und dann auch noch auf dem Berg, von dem es bei Tage schon schwer herunterzukommen war. Überall lagen Steine auf den viel zu engen Wegen, und wer in die falsche Richtung stolperte, stürzte sich in den sicheren Tod. Vielleicht, dachte Clara bei sich, ist es gar nicht so schlimm, wenn ich diesen Weg nicht lebend überstehe. Außer meinem Leben habe ich ja sowieso nichts mehr zu verlieren. Sie erschrak vor ihrem eigenen Gedanken, nie hätte sie in irgendeiner anderen Situation dem Leben eine solche Gleichgültigkeit entgegengebracht. Aber das Gefühl, nicht einmal die eigene Familie hinter sich zu haben, verstoßen zu werden und im schlimmsten Fall auf der Straße zu landen, lastete schwer auf ihr. Immer wieder ging ihr dieselbe Frage durch den Kopf: Ist dieses Leben noch lebenswert? Sie konnte zu keiner klaren Entscheidung kommen, allerdings wurde diese ihr jäh abgenommen. Ihr vor Kälte gefühlloser Fuß stieß an einen der Steine auf dem Weg, und so gedankenverloren, wie sie in diesem Augenblick war, konnte sie den Sturz nicht abfangen. Sie spürte noch, wie ihr der Boden unter den Füßen entglitt, wie ihre linke Hand den steilen Fels streifte- danach nichts. Man fand sie zwei Tage später. Die Mutter gab an, ihr Verhalten schrecklich zu bereuen. Der Fall wurde unter dem Ergebnis „Suizid“ geschlossen.