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Eine Frage der Gerechtigkeit und Fairness – Transgender bei Olympia

Die Olympischen Spiele 2020 waren in vieler Hinsicht besonders. Während Deutschland mit zehn Gold-Medaillen den 9. Platz belegte, nahm auch die neuseeländische Kandidatin Laurel Hubbard an den Wettkämpfen in der Disziplin Gewichtheben teil. Damit war sie die erste Transfrau, die bei den Olympischen Spielen antrat und offen über ihre Geschlechtsanpassung sprach. Auch wenn die Frau seit 2012 auch dieses biologische Geschlecht durch eine Operation angenommen hat und alle Voraussetzungen des IOCs (International Olympic Committee) erfüllte, sorgte ihre Teilnahme für viele Diskussionen und war sehr umstritten – dabei spielte die Tatsache, dass sie letztlich keine Medaille gewann, keine große Rolle.

Es wurde die Sorge geäußert, der „Frauensport gehe verloren“ und der Leistungsvorteil von Transfrauen würde zu unfairen Verhältnissen führen, wodurch Cis-Frauen (Cisgender bezeichnet Personen, deren Geschlechtsidentität mit dem Geschlecht in ihrem Geburtenregister übereinstimmt) keine Chance hätten, Gewinne zu erzielen. Auf den ersten Blick scheint das schlichtweg ungerecht zu sein, denn es gibt tatsächlich Studien, die zeigen, dass Transfrauen auch viele Jahre nach der Geschlechtsanpassung noch bessere Leistungen erzielen als Frauen, die in einem biologisch weiblichen Körper geboren wurden. Dieser Unterschied lässt sich auf die Leistungsunterschiede zwischen Männern und Frauen zurückführen. Man kann z.B. anhand von Vergleichen von (Welt- )Rekorden feststellen, dass es diese Leistungsunterschiede gibt und die Bestwerte von Männern z.B. in der Disziplin Gewichtheben, in der 2018 der Rekord der Herren bei 145kg lag, um ein Vielfaches höher liegen als die von Frauen, deren Rekord in der gleichen Disziplin und bei der gleichen Gewichtsklasse bei 99kg lag. Aus Vergleichen von solchen und noch mehr Daten kann man schließen, dass im Durchschnitt die Kraft einer Frau nur 54-80% der Kraft eines durchschnittlichen Mannes entspricht. Dieser Unterschied ist neben einer unterschiedlichen Anatomie und Konstitution (die allgemeine körperliche Verfassung) von dem unterschiedlichen Gehalt an Testosteron im Blut herzuleiten, der auch für die Ausbildung der unterschiedlichen Geschlechtsmerkmale sorgt und zu einer unterschiedlichen Entwicklung z.B. von Muskelmasse führt.

Diese Unterschiede entwickeln sich in der Pubertät, wenn auch andere Geschlechtsmerkmale wie Bartwuchs oder die Periode einsetzen, und sorgen u.a. für unterschiedliche Richtwerte bei der Bewertung im Sportunterricht. Wenn also ein biologischer Junge die Pubertät durchläuft und dadurch Bartwuchs und mehr Muskelmasse entwickelt, dann aber erst später, mit 39 Jahren z.B., wie es bei Laurel Hubbard der Fall ist, durch eine Operation und/oder hormonelle Behandlung seinen Körper zu dem einer biologischen Frau ändert, hat dieser schon die entscheidende Phase für die Entwicklung der Leistungsunterschiede durchlaufen, was zu einem Leistungsvorteil bei Wettkämpfen führen kann, auch wenn er durch eine Behandlung das Geschlecht einer Frau annimmt und dadurch den Leistungsunterschied verringert.

Allerdings sind diese Leistungsunterschiede zwischen Männern und Frauen in jeder Sportart anders. So liegen die durchschnittlichen Werte von Frauen bei Kraft- oder athletischen Sportarten sehr viel niedriger als die von Männern, während bei Sportarten, bei denen Ausdauer oder Beweglichkeit von größerer Bedeutung ist, die Leistungsunterschiede geringer sind. Dabei ist auch zu bedenken, dass bestimmte biologische Unterschiede auf verschiedene Sportarten unterschiedlich große Einflüsse haben. Der Unterschied an Muskelmasse führt z.B. beim Gewichtheben zu einem größeren Leistungsunterschied als bei anderen Sportarten, wie beim Marathon-Laufen. Das bedeutet, dass die Vorteile von Transfrauen in Sportarten mit verschiedenen Anforderungen und Voraussetzungen sehr unterschiedlich sind und deswegen unterschiedlich bewertet werden müssen.

Bei einer Geschlechtsangleichung wird durch die Einnahme von bestimmten Tabletten, die den Hormonhaushalt des Körpers beeinflussen und so u.a. den Gehalt des Testosterons verändern, dafür gesorgt, dass der Körper zu dem des biologisch gewünschten Geschlechtes verändert wird und dessen Körpereigenschaften annimmt. Für einen Transmann bedeutet das also, dass er z.B. vermehrt Testosteron zu sich nehmen muss, da dieses nicht automatisch vom Körper hergestellt wird. Eine Transfrau hingegen muss vermehrt Östrogen zu sich nehmen, um den erhöhten Testosterongehalt, der automatisch aufrechterhalten wird, zu vermindern und möglichst weibliche Körpereigenschaften anzunehmen. Ein Transmann bildet also in der Zeit der Behandlung typisch männliche Eigenschaften wie Bartwuchs, eine tiefe Stimme oder vermehrte Muskelmasse heraus, die bei Cis-Männern in der Pubertät entwickelt werden, während Transfrauen durch die Behandlung typisch weibliche Eigenschaften entwickeln wie z.B. eine höhere Stimme, weniger Bartwuchs oder weniger Muskelmasse. Diese Angleichung an das gewünschte Geschlecht kann noch durch eine operative Behandlung erweitert werden, in der die Geschlechtsteile angepasst werden. Bei einem Transmann kommt es dabei zu keinem von der Natur gegebenen Leistungsvorteil hinsichtlich der Hormone, da dieser eine weibliche Pubertät durchlaufen hat. Weil Transfrauen aber eine männliche Pubertät durchlaufen, die die entsprechenden Leistungsunterschiede mit sich bringt, ist die Bewertung von Transfrauen im Sport deutlich umstrittener, da durch diese biologischen Voraussetzungen ein Vorteil gegeben sein kann.

Ziel einer hormonellen Behandlung ist es, dass bei einer Transgenderperson nach einer bestimmten Zeit äußerlich, aber auch bei der Untersuchung von Hormonwerten keine Unterschiede zu dem biologischen Geschlecht mehr zu erkennen sind. Wenn das der Fall ist, bedeutet das, dass auch Transgenderpersonen keine Vor- oder Nachteile bei der Teilnahme an Wettkämpfen haben und so bedingungslos daran teilnehmen können sollten.

Allerdings waren z.B. bei Laurel Hubbards Teilnahme an den Olympischen Spielen viele Stimmen zu hören, die der Auffassung waren, dass eine solche komplette Angleichung an das biologische Geschlecht nicht zu erreichen ist und selbst bei jahrelanger Behandlung zu einem Leistungsvorteil führt, weswegen der Frauensport verloren gehe.

Wie bereits erwähnt, wird bei einem Geschlechtsanpassung auch die körperlichen Eigenschaften wie z.B. Muskelmasse angeglichen und bei Transfrauen zurückgebildet. Ob eine solche Angleichung aber zu komplett gleichen oder wenigstens nur von einem zu vernachlässigbaren Teil von der Konstitution der Cis-Frauen abweichenden Werten führt, ist aber mit dem aktuellen Wissensstand nicht so einfach zu beantworten, da z.B. die International Federation of Sports Medicine, ein Zusammenschluss internationaler sportmedizinischer Verbände, betont, dass es einen deutlichen Mangel an Daten über die Vor- und Nachteile, die mit Transfrauen oder Transmännern in Wettkämpfen einhergehen, gibt. Das bedeutet, dass es zum einen Studien gibt, die belegen sollen, dass auch nach vielen Jahren diese angestrebte Angleichung an die Werte von dem biologischen Geschlecht nicht erfolge und dadurch auch nach vielen Jahren Transfrauen einen Leistungsvorteil durch einen höheren Anteil an Muskelmasse z.B., der in der männlichen Pubertät entstanden ist, haben würden. Gleichzeitig gibt es aber auch Studien, die zeigen sollen, dass nach zwei Jahren der hormonellen Behandlung kaum mehr ein Vorteil für Transfrauen erkennbar sei.

Das bedeutet, dass ein deutlich nachweisbarer Leistungsunterschied zwischen Männern und Frauen aufgrund der Anatomie, Konstitution und Hormone die Frage aufwirft, inwieweit dieser Unterschied bei einer Behandlung beim Wechsel des Geschlechts zurückgebildet und angeglichen wird. Dabei stützt sich die Sorge um den Verlust des Frauensports auf Studien, die zeigen, dass Transfrauen durch diese Unterschiede weiterhin einen Leistungsvorteil im Frauen-Wettkämpfen haben, wodurch es zu unfairen Verhältnissen komme. Allerdings sorgt der Mangel an Wissen über Transgender-Behandlungen, bei der diese Zurückbildung der Geschlechtsunterschiede beabsichtigt wird, dafür, dass dieser Leistungsvorteil nicht nachgewiesen und so aufgrund dessen nicht abschließend bewertet werden kann.

Beim Vergleich der (Welt-)Rekorde fällt allerdings auf, dass in den letzten Jahren ein Trend zu einer Verringerung der Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu erkennen ist, was zur Überlegung anregt, ob diese Leistungsunterschiede nicht doch an etwas anderem liegen, als an den Hormonunterschieden zwischen Mann und Frau wie z.B. dem soziologischen Hintergrund. Das bedeutet, dass durch fehlende Identifikation und bestimmten Rollen und Positionen in der Gesellschaft, die ihnen von der Geburt an beigebracht werden, Mädchen z.B. durchschnittlich nicht so wahrscheinlich auf die Idee kommen, Gewichte zu heben, und nicht so große Ambitionen dafür entwickeln, während Jungen durchschnittlich nicht so einen großen Wert auf Beweglichkeit und Flexibilität legen und die gesellschaftliche Hürde, als Junge zum Ballett-Training zu gehen, sehr viel größer ist als bei den stereotypen Sportarten zu bleiben. Das wirkt sich dann zum einen auf die Ambitionen und Erwartungen der Kinder, aber auch auf die Förderung durch intensives Training von Erwachsenen aus. Das bedeutet, dass durch ein Aufweichen der Rollenbilder in den letzten Jahren der Leistungsunterschied durch unterschiedliche Förderung zurückgegangen ist und die Leistungsunterschiede nicht notwendig von bestimmten Testosteronwerten abhängen, sondern durch soziologische Faktoren entstehen, die an einem anderen Punkt in der Gesellschaft zu ändern wären als bei der Bewertung der Hormonwerte von Transmännern und -frauen.

Ausgehend von den Vergleichen der Testosteronwerte stellt sich außerdem die grundsätzliche Frage, was es überhaupt bedeutet, eine Frau oder ein Mann zu sein. Definiert der Testosteronspiegel das Geschlecht eines Menschen? Genauso wie es überall Fälle gibt, die nicht dem Durchschnitt entsprechen, gibt es auch Frauen, die in einem weiblichen Körper geboren sind und trotzdem einen ungewöhnlich hohen Testosteronspiegel haben. Genauso gibt es Cis-Männer, die von Natur aus einen ungewöhnlich geringen Testosterongehalt haben. Dürfen diese Frauen mit sehr hohem Testosterongehalt dann auch nicht an Wettkämpfen teilnehmen, weil dadurch „der Frauensport verloren“ geht? Spricht man diesen Frauen nicht nur die Möglichkeit, an den Olympischen Spielen teilzunehmen, sondern auch ihre gesamte Weiblichkeit ab, nur weil ihre Biologie einen bestimmten Wert aufweist?

Außerdem fällt auf, dass nicht nur der Testosterongehalt biologische Unterschiede zwischen Menschen darstellt. Es gibt sehr viele Faktoren, die bei jedem Menschen individuell sind und die Leistungen im Sport beeinflussen, sodass es schwierig ist, festzulegen, dass nur ein besonderer Testosterongehalt für unfaire Verhältnisse sorgt. Ein besonders kleiner Mensch hat z.B. Schwierigkeiten, im Basketball erfolgreich zu sein, ein Mensch mit besonders langen Beinen hat hingegen einen Vorteil im Sprinten, da aufgrund von biologischen Voraussetzungen eine höhere Geschwindigkeit erreicht werden kann. Was unterscheidet diese Faktoren von dem Testosterongehalt, der zu einem Vorteil bzw. Nachteil führen kann?

Fest steht, dass diese Diskussion viele Fragen aufwirft, die die ethischen Grundsätze unserer Gesellschaft hinterfragen und nicht einfach beantwortet werden können. Dabei sollte allerdings immer die Inklusion und Gleichberechtigung aller Geschlechter im Fokus stehen. Das bedeutet, dass kein Mensch aus dem öffentlichen Leben, wovon sportlichen Aktionen wie die Olympischen Spiele ein Teil sind, ausgeschlossen werden sollte, was auch bedeutet, dass ein Weg gefunden werden muss, mit dieser Frage umzugehen, ohne dass ein Teil unserer Gesellschaft ausgegrenzt und diskriminiert wird.

Der IOC beantwortete die Frage nach Transgendern bei Wettkämpfen mit klaren Regeln, die vorgeben, dass seit 2016 keine geschlechtsangleichende Operation zur Teilnahme an den Spielen mehr notwendig ist und Transmänner ohne Einschränkungen an den Männer-Wettkämpfen teilnehmen dürfen. Transfrauen, die zwar auch keine Operation durchlaufen haben müssen, um an den Frauen-Wettkämpfen teilzunehmen, müssen trotzdem beweisen, dass sie seit mindestens 12 Monaten unter einem vorgeschriebenen Grenzwert von einem Testosterongehalt unter 10 Nanomol pro Liter Blut liegen und mindestens seit vier Jahren durch eine hormonelle Behandlung eine biologische Frau sind.

Außerdem wurde im November 2021 ein 10-Punkte-Papier festgelegt, das nach den Olympischen Spielen in Peking, 2021/22, in Kraft treten soll. Dieses Papier stellt ein Rahmenwerk für internationale Sportvereine dar und legt den Fokus auf Inklusion, Fairness und Nicht-Diskriminierung, wobei beachtet wird, dass dieses für jede Sportart unterschiedlich definiert werden muss und das Rahmenwerk lediglich als Richtlinie zu verstehen ist. Das bedeutet, dass kein hormoneller Grenzwert mehr vorgeschrieben ist, sondern betont wird, dass jede Athletin ein Recht auf Privatsphäre und Selbstbestimmung hat. Allerdings wurde dieses 10-Punkte-Papier schon jetzt von vielen Expert*innen kritisiert und als „Framework“ bezeichnet, da ein vorgegebener Hormon-Wert für mehr Fairness sorge.

Laurel Hubbard, die ohne Erfolge die Olympischen Spiele verließ und mittlerweile 25kg weniger hebt als vor ihrer Operation, sagte in einem ihrer wenigen Interviews im Jahr 2017: „Ich bin, wer ich bin. Ich bin nicht da, um die Welt zu verändern. Ich will nur ich sein und das machen, was ich mache.“ Und ich glaube, das ist auch genauso, wie Laurel Hubbard gesehen werden sollte: Ein Mensch, die einfach sie selbst ist und das tut, was sie gut kann.

Anne Boltzendahl (4/22)

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